Nicola Jungsberger, Simon Wiesenthal

Die Sonnenblume

Über die Möglichkeiten und Grenzen von Vergebung

400 Seiten, geb. Leinen mit Banderole


22,90 € (D) / 23,60 € (A) inkl. MwSt.
ISBN 978-3-95890-006-6, WG 1973

1942. Sie sind ein KZ-Häftling. Ein sterbender SS-Soldat bittet Sie um Vergebung. Was tun Sie?
Vor ebendieser Entscheidung stand der Protagonist in der Erzählung des Holocaust-Überlebenden Simon Wiesenthal.. Der große Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit schildert hier seinen Gewissenskonflikt, der ihn noch Jahrzehnte später nicht losließ. Hatte er das Richtige getan? Darf das Unverzeihliche verziehen werden? Wenn ja, wie? Wenn nein, wie weiterleben? Simon Wiesenthals Fragen in der Erzählung rühren an die Grundfesten des Menschseins. 1969 bat Simon Wiesenthal verschiedene Persönlichkeiten, eine Antwort auf diese Fragen zu geben, die er selbst in der Erzählung vergeblich versucht hatte zu beantworten. Die gefundenen Antworten veröffentlichte er zusammen mit der Erzählung in einem Buch, das er Die Sonnenblume nannte. Es wurde in zwanzig Sprachen übersetzt und liegt bis heute in zahlreichen Neuauflagen vor. Simon Wiesenthals zehnter Todestag ist nun der Anlaß für eine deutsche Neuausgabe mit 44 neuen Antworten und 15 Repliken aus früheren Ausgaben. 59 herausragende Frauen und Männer stellen sich hier Wiesnethals Fragen: buddhistische und christliche, jüdische und muslimische Geistliche und Theologen, Philosophen und Psychologen, Holocaust-Überlebende und Angehörige von Überlebenden, Täterforscher und Richter, Menschenrechtsaktivisten und Historiker, Schriftsteller und Dokumentarfilmer. Ihre Antworten sind so unterschiedlich wie ihre Erfahrungen in der Welt, und zeigen, dass Wiesenthals Fragen heute genauso aktuell sind. Das Buch fordert jeden Einzelnen heraus, seine persönliche Haltung zu Vergebung und Versöhnung, Gerechtigkeit und Mitgefühl neu zu prüfen und zu artikulieren.
 
Der Band enthält hochaktuelle Antworten über Möglichkeiten und Grenzen der Vergebung von folgenden Autoren*innen
OLIVIER ABEL Philosoph, Forschungen u.a. zu Vergebung MEHNAZ AFRIDI Philosophin, Forschungen u.a. zum Islam, Holocaust, Genozid SVEN ALKALAJ Politiker, UN-Executivsekretär der Wirtschaftskommission für Europa
JEAN AMÉRY Schriftsteller, Holocaust-Überlebender ANDREJ ANGRICK Historiker, Forschung u. a. zur Wehrmacht ALEIDA ASSMANN Kulturanthropologin, Forschungen u. a. zum kulturellen Gedächtnis HEIDEMARIE BENNENT-VAHLE Philosophin, Forschung u.a. zu Emotionen JOSEF BIERBICHLER Schauspieler und Autor eines Theaterstücks über Mengeles Assistenzarzt MARIA UND STEPHAN CRAEMER kontextuelle Philosophen und Coaches DALAI LAMA Oberhaupt des tibetischen Buddhismus und Friedensnobelpreisträger HAJO FUNKE Sozialwissenschaftler, Forschung u. a. zu Rechtsextremismus PUMLA GOBODO-MADIKIZELA Psychologin, Forschungen u. a. zu Trauma, Vergebung und Versöhnung REZA HAJATPOUR islamischer Theologe, Schriftsteller und ehemaliger Mullah BERT HELLINGER Familientherapeut, systemische Familientherapie und -aufstellung JOSÉ HOBDAY Franziskaner-Nonne, Angehörige US-amerikanischer Ureinwohner (Seneca, Irokesen, Seminolen) DETLEF HORSTER Sozialphilosoph, Forschungen u. a. zur Ethik des Bösen HALIMA KRAUSEN erste Imanin Deutschlands PRIMO LEVI Schriftsteller, Holocaust-Überlebender DEBORAH LIPSTADT Historikerin, Forschung u. a. zum Holocaust EVA MADELUNG Familientherapeutin BRIGITTA MAHR Friedensaktivistin, Engagement in der Jugendarbeit HERBERT MARCUSE Philosoph und Soziologe GISELA MAYER Ethiklehrerin, Gründerin Amoklauf-Winnenden e. V. KLAUS MERTES, Schuldirektor Jesuit, Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs am Canisius-Kolleg HAMIDEH MOHAGHEGHI islamische Theologin, Forschung u.a. zu Kämpferinnen des IS EVA MOZES KOR Museumsleiterin, Holocaust-Überlebende SUSAN NEIMAN Philosophin, Forschung u.a. zur Moralphilosophie und dem Bösen MARCEL OPHÜLS Dokumentarfilmer, Filme u. a. zu den Auschwitzprozessen ÉVA PUSZTAI-FAHIDI Autorin, Holocaust-Überlebende JALDA REBLING Chasan, Angehörige von Holocaust-Überlebender MATTHIEU RICARD Buddhist, Forschungen u. a. zum Glück WALTER ROTHSCHILD Rabbiner und Autor SIDNEY SHACHNOW General a. D. der US-amerikanischen Special Forces, Holocaust-Überlebender DOROTHEE SÖLLE evangelische Theologin, Aktivistin für Frieden und Frauenrechte DESMOND TUTU Leiter der Wahrheits- und Versöhnungskommission und Friedensnobelpreisträger BERTOLD ULSAMER Therapeut und Coach, Autor zu Themen wie Trauma und Schuld SIMONE VEIL Politikerin, Holocaust-Überlebende MARTIN WALSER Schriftsteller THOMAS WALTHER ehemaliger Richter, Anwalt der Nebenkläger im Prozess gegen Oskar Gröning, WOLFRAM WETTE Historiker, Forschung u.a. zu NS-Tätern BEATE WINKLER ehemalige Direktorin der EU-Grundrechtsagentur, Engagement in den Bereichen Integration und Vielfalt CARL ZUCKMAYER Schriftsteller
 
Im Ausland ist Simon Wiesenthals Buch DIE SONNENBLUME ein Bestseller, übersetzt in mehr als 20 Sprachen. Laut seiner Biographin Hella Pick betrachtete Simon Wiesenthal DIE SONNENBLUME als sein wichtigstes Buch. Herausgegeben von Nicola Jungsberger ist es zum 10. Todestag von Simon Wiesenthal - am 20. September 2015 – neu aufgelegt mit 59 Beiträgen – wieder erschienen. 
»Ich bin tief berührt worden, auch in meinen eigenen Fragen zum Thema Vergebung. Dieses Buch sollte nicht nur gelesen, sondern auch diskutiert werden – und zum Curriculum an Universitäten und Schulen gehören«     Iris Berben
Zum 10. Todestag von Simon Wiesenthal am 20. September 2015 endlich wieder auf Deutsch lieferbar • Möglichkeiten und Grenzen der Vergebung • Im Ausland ein Bestseller, übersetzt in mehr als 20 Sprachen • Darf man das Unverzeihliche verzeihen? Umfassend aktualisierte Neuausgabe mit  59 hochaktuellen Antworten Nicola Jungsberger, Herausgeberin der aktuellen Ausgabe,  bat 44 renommierte Persönlichkeiten, jene Fragen für die Gegenwart zu überdenken und einen Beitrag zu den Möglichkeiten und Grenzen von Vergebung zu verfassen. Die Neuausgabe der Sonnenblume enthält ihre  Antworten, samt einer Auswahl von 15 Repliken aus früheren Ausgaben: buddhistische und christliche, jüdische und muslimische Geistliche und Theologen, Philosophen  und Psychologen, Holocaust-Überlebende und Angehörige von Überlebenden, Täterforscher und Richter, Menschenrechtsaktivisten und Historiker, Schriftsteller und Dokumentarfilmer.
 
Das Buch fordert jeden Einzelnen heraus, seine persönliche Haltung zu Vergebung und Versöhnung, Gerechtigkeit und Mitgefühl neu zu prüfen und zu artikulieren.

  STIMMEN AUS DEM BUCH ZU DER FRAGE:

"Darf man das Unverzeihliche verzeihen?"

Pumla Gobodo-Madikizela ist Professorin für Trauma, Vergebung und Versöhnung in Südafrika. Sie arbeitete im Komitee für Menschenrechte der Wahrheits- und Versöhnungskommission, die nach dem Ende der Apartheid eingesetzt wurde, und begleitete Opfer-Täter-Gespräche. Sie schrieb in ihrer Antwort:
"Simon Wiesenthals Buch ebnete uns den Weg, um der Frage nachzugehen, was es bedeutet, menschlich zu sein nach der Ära der Naziverbrechen, und zwar auf eine Art und Weise, die zuvor nicht möglich gewesen war. Er übertrug unserer Generation, der Generation nach dem Holocaust, die Verantwortung, uns nicht einfach nur Gedanken zu machen über die Frage, ob es richtig oder falsch von ihm war, dem SS-Mann Karl nicht zu vergeben, sondern uns vielmehr damit zu beschäftigen, was es bedeutet, sich angesichts der Folgen des absolut Bösen menschlich zu zeigen. Sein Buch ist wirklich einzigartig, und seine Erzählung zeigt das Potenzial für eine menschliche Beziehung selbst unter unsagbar tragischen Umständen auf. (.....)
Die Tatsache, dass seine (Wiesenthals) Antwort für ihn moralische Fragen aufwarf, die, wie er schreibt, »mein Herz und meinen Verstand herausforderten«, und zwar noch lange nach seiner Begegnung mit dem jungen SS-Mann, und die zu einer unbarmherzigen Reflexion der Frage führten, ob er richtig gehandelt habe, lässt vermuten, dass ihn die Worte des sterbenden Karl berührten. Dies beeindruckte mich an Wiesenthals Erzählung am meisten, als ich sie zum ersten Mal las. Er antwortete nicht mit dieser bestimmten Art von Ekel, die man nach der Begegnung mit einer Person erwarten dürfte, die »radikal böse« Dinge gestanden hatte, um Hannah Arendt zu zitieren, und er wies die Begegnung mit Karl auch nicht als eine ab, die keiner weiteren Überlegungen wert war. Vielmehr beschäftigte sich Wiesenthal weiterhin damit, und er fordert jeden von uns heraus, in seine Fußstapfen zu treten und sich die Frage zu stellen: Was hätte ich getan?
Wenn man Die Sonnenblume im 21. Jahrhundert liest, einer Zeit, in der die Sprache der Vergangenheitsbewältigung vom Dialog unter den Tätern all dieser schrecklichen Dinge beherrscht wird, die noch dazu im selben Land wie die Opfer ihrer Verbrechen leben, dann finde ich es schwierig, direkt auf die in Wiesenthals Buch gestellte Frage zu antworten, indem man lediglich die Brille des moralischen Urteils benutzt. Philosophische Fragen können und sollen den Weg bereiten und unter Fragen zusammengefasst werden, die den Menschen betreffen, denn im Endeffekt sind wir eine Gesellschaft von Menschen und nicht von Ideen, ein fragiles Netz aus voneinander abhängigen Menschen und nicht aus Standpunkten.
Kürzlich machten wir einen Forschungsbesuch in Bugasera in Ruanda, einem der Dörfer, die vom Genozid am stärksten betroffen waren .... "
Pumla Gobodo-Madikizela (* 1955, Südafrika) ist Professorin für Trauma, Vergebung und Versöhnung an der University of the Free State, Südafrika. Sie arbeitete im Komitee für Menschenrechte der Wahrheits- und Versöhnungskommission, die nach dem Ende der Apartheid eingesetzt wurde, und begleitete Opfer-Täter-Gespräche. Von ihr erschien u. a. Das Erbe der Apartheid – Trauma, Erinnerung, Versöhnung.

Franziskus von Heereman, ein Philosoph, mit dem Schwerpunkt Philosophie der Liebe, schrieb:

"Die Sonnenblume hat in den letzten fünfzig Jahren nichts von ihrem erschütternden Ernst verloren, mit der sie uns die abgrundtiefe Bosheit der Shoah vor Augen führt und in dieser Atmosphäre des scheinbaren Untergangs aller Menschlichkeit eine Begebenheit schildert, die genau diesen Sieg des Bösen dementiert. Nicht bloß in der Figur des reuigen SS-Mannes, sondern gerade in der Rolle Wiesenthals, der nicht aus Hartherzigkeit nicht verzeiht, sondern aus sittlichen Erwägungen, die ihm nicht die hinreichende Gewissheit liefern, hier vergeben zu 'dürfen'. Er hat sie nie gefunden und dennoch nicht aufgehört, sie zu suchen – er, der wie so viele Angehörige seines Volkes derart Schlimmes hat erleiden müssen, dass man versucht wäre, zu denken, er sei von jeglicher sittlichen Einstellung den Tätern gegenüber dispensiert. Er hat diese Frage vielen seiner Zeitgenossen vorgelegt, deren Antworten nach wie vor lesenswert sind. Es ist gut, sie sich heute neu zu stellen und um eine Antwort zu ringen. Nicht mehr als Antwort an Wiesenthal, sondern als Antwort auf eine Frage, die bleibend aktuell ist. Es ist zum einen die Frage, ob und wie Nahestehende eines Opfers vergeben können, was erst in zweiter Linie sie trifft. Zum anderen die Frage der reuigen Täter, wie sie Vergebung sollen erlangen können, wenn die Opfer tot oder nicht zur Vergebung bereit sind. Gibt es eine Pflicht zur Vergebung? Gibt es die Möglichkeit der stellvertretenden Verzeihung? Gibt es einen Neuanfang für den Täter?"
Franziskus von Heereman (* 1976) ist Lehrbeauftragter und Habilitand an der Hochschule für Philosophie SJ München. In seiner Forschung widmet er sich dem deutschen Idealismus, der Philosophie der Liebe und der Philosophie des Bildes. Von ihm erschien 2010 das Buch Selbst und Bild. Zur Person beim letzten Fichte (1810–1814).

Susan Neiman schlägt in ihrer Antwort einen Bogen von den Wirkungen der Vergebung einer Mutter bei dem Anschlag in Charleston dieses Jahr zur deutschen Vergangenheitsbewältigung und die Aufgabe der Politik:

"Mit tränenerstickter Stimme sprach eine Frau, die ihre Mutter nie wieder umarmen wird, eine Mutter, die ihren Sohn verlor, Worte der Vergebung aus: »Ich verzeihe dir. Möge Gott deine Seele begnadigen.« Der Terrorist schaute stumm und stur in die Kamera. Er hat nicht einmal um Vergebung gebeten, noch einen Hauch von Reue gezeigt.
Solche Vergebung kommt aus dem tief verwurzelten christlichen Glauben, der schwarze Amerikaner seit der Sklavenzeit getröstet und unterstützt hat. (Wahre Christen versuchen, den imitatio Dei in der Person Jesu zu vollziehen, während Juden die Unterschiede zwischen Gott und Mensch unterstreichen.) Sie hatte eine sofortige Wirkung. Ohne diese übermenschliche öffentliche Vergebung und dem Verzicht auf Gewalt als Reaktion auf den Terror wäre Präsident Obama nicht nach Charleston gekommen, um eine ergreifende und historische Rede beider Trauerfeier zu halten. Noch viel wichtiger, es wäre nie dazugekommen, die Fahnen der Sklavenhalter verschwinden zu lassen– nicht nur in South Carolina, sondern in anderen Südstaaten auch. Die moralische Überlegenheit der Opfer hat endlich zu einer amerikanischen Vergangenheitsaufarbeitung geführt,die noch in den Anfängen steckt. Unmöglich zu wissen, wie es weitergeht.
So ergreifend diese Vergebung gewesen ist, wie auch Obamas Rede danach, bleibt dennoch Unbehagen. In einem Land, wo struktureller Rassismus immer wieder tödlich wirkt, weil die Lobby der Waffenhändler immer wieder vernünftige Waffengesetze verhindert, wurde zu viel in Gottes Hand gelassen. Vergebung und Gnade sind theologische Begriffe, wo uns politische fehlen. Es muss gehandelt werden. Denn es geht nicht darum, ob ein einzelnes Opfer einem einzelnen Täter verzeiht. Wie der scharfsinnige Améry schreibt, ist es eine psychologische Frage,und psychologische Fragen hängen von Kontingenzen ab. Wichtiger ist die Frage, was wir tun können, um das Böse der Vergangenheit zu erkennen, damit es nicht in Zukunft wiederkehrt.
Obwohl langsam, stockend und oft widerwillig, hat die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung der letzten Jahrzehnte schon politisch gewirkt. Unter anderem hat sie wesentlich dazu beigetragen,dass Juden meiner Generation Deutschland verzeihen können und sollen. Ob sie weitergeht – und andere Länder auch dazu ermutigt, sich mit den Verbrechen der eigenen Geschichte zu konfrontieren, bleibt noch offen."
Susan Neiman (* 1955, USA) ist Direktorin des Einstein Forums in Potsdam, lehrte zuvor als Professorin für Philosophie in Yale und TelAviv. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Moralphilosophie und politische Philosophie. Von ihr erschien u. a. Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie (2004).

Gisela Mayer, deren Tochter bei dem Amoklauf in Winnenden getötet wurde, schrieb in ihrer Antwort:

"Die Frage nach Schuld und Vergebung, der Aufruf zum Nachdenken, den Simon Wiesenthal mit seiner Erzählung Die Sonnenblume an uns richtet, hat mich zutiefst erschüttert. Wie könnte ich von einer Pflicht zur Vergebung sprechen, angesichts des Unmenschlichen, das zu verzeihen er stellvertretend für zahllose Opfer aufgefordert wird? Sprechen kann ich nur von der Bedrängnis, aus der heraus er seine Frage an uns richtet. Ich habe die Not selbst erlebt, in die mich die Aufforderung stürzte, dem Menschen zu verzeihen, der ohne Grund mein Kind in seinem jungen Leben ermordet hat.
Was könnte es bedeuten zu verzeihen? Es kann nicht heißen zu vergessen. Was geschehen ist, ist geschehen, kein noch so langer Zeitraum »seitdem« wird daran etwas ändern. Es heißt auch nicht, die Verantwortung des Täters zu relativieren. Er ist und bleibt der Akteur seines Handelns, nicht Opfer zahlloser Bedingtheiten. Vergebung kann nicht Rechtfertigung, nicht Billigung und auch nicht Begnadigung bedeuten. Vergeben heißt nicht, Strafe zu erlassen. Und sie verdankt sich auch nicht der Schwäche, das Unrecht und die Grausamkeit der Tat zu erfassen. Vergebung ist kein Akt, zu dem ich mich entschließe, aus Gründen, die ich zuvor sorgfältig abwäge. Vergebung kann nur ein Prozess, ein Weg sein, der wiederherstellt, was durch die Schuld des Täters zerstört wurde. Ein Zeichen dieses Weges wären jedwede Worte gewesen, hätte sie Simon Wiesenthal an den SS Mann gerichtet. Sie hätten die Wiederherstellung der Beziehung bedeutet, die die Menschheit verbindet.
Beziehungssein ist die Urweise des Menschseins. »Der Mensch ist wesentlich auf den anderen hingeordnet«, wusste schon Aristoteles, und Martin Buber sagte: »Der Mensch wird erst am Du zum Ich.« Erst wenn wir anerkannt, wahrgenommen und angenommen werden, können wir in vollem Sinn Mensch werden. Wir sind im Wesentlichen »Relatio«, nicht »Ratio«. Erst im Du, das gleichzeitig vom Ich unterschieden und ihm verbunden ist,kann das Ich, das »Selbstsein« entstehen. In der Vernichtung des anderen vernichte ich mich selbst. Vergebung bedeutet nichts anderes, als die Entfremdung des Täters von sich selbst wieder aufzuheben. (....)
Zu vergeben ist keine Aufgabe, die zu leisten ein Mensch aufgefordert werden kann. Vergeben zu können kann ein Prozess, ein Weg sein, der letzten Endes sich nicht dem Tun des Vergebenden verdankt, sondern in der Gnade besteht, den Täter als Teil der umfassenden Beziehung zu verstehen, in der die Menschheit miteinander verbunden ist. Es gibt nicht die Möglichkeit, ein Du zu zerstören, ohne am Ich Schaden zu nehmen."
Gisela Mayer (* 1957) arbeitet als Ethiklehrerin. Ihre Tochter wurde beim Amoklauf an der Schule in Winnenden getötet. Sie gründete das Aktionsbündnis Amoklauf-Winnenden, heute Stiftung gegen Gewalt an Schulen, deren Vorstand sie angehört. Sie veröffentlichte 2010 das Buch Die Kälte darf nicht siegen! Was Menschlichkeit gegen Gewalt bewirken kann.