Eine Rezension zu PERMAFROST - Viktor Remizov auf literaturkritik.de
Russland, stelle dich deiner Vergangenheit!
Viktor Remizovs epochaler Roman „Permafrost" über den Stalinschen Totalitarismus ist hochaktuell
Von Daniel Henseler
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
Unmittelbar nach dem großflächigen Einmarsch Russlands in die Ukraine vom Februar 2022 haben viele, die mit der russischen Realität eigentlich gut vertraut waren, sich gleichwohl die wesentliche Frage stellen müssen: „Wie konnte es so weit kommen?" Eine fundierte Antwort darauf zu finden, ist unter anderem Aufgabe der Wissenschaft. Aber ein wichtiges Argument wurde seitdem immer wieder zur Diskussion gestellt: Was passiert ist, ist auch deswegen passiert, weil Russland sich seiner eigenen Geschichte nicht in adäquater Weise gestellt hat.
Auf eine geradezu atemberaubende Weise hat nun der russische Schriftsteller Viktor Remizov dieses Versäumnis mit seinem groß angelegten Roman Permafrost anschaulich und gültig illustriert. Das Buch ist im Original bereits 2021 erschienen. Die Diagnose von der versäumten Aufarbeitung der Vergangenheit ist deswegen allerdings nicht falsch. Sie traf schon vor 2022 zu – und sie gilt unterdessen umso mehr. Erstaunlich ist freilich, dass dieses unbequeme und kritische Buch in russischen Buchhandlungen ganz offensichtlich nach wie vor erhältlich ist.
Viktor Remizov führt uns in Permafrost in die späten Jahre der Stalinschen Herrschaft. Nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg konzentriert sich der Machthaber wieder auf die Konsolidierung des sowjetischen Staates und auf infrastrukturelle Großprojekte. So soll im Hohen Norden, im westlichen Teil Sibiriens, eine über 1’400 Kilometer lange Eisenbahnstrecke gebaut werden. Sie wird später unter dem Namen „Polarkreiseisenbahn" oder auch „Stalinbahn" in die Geschichte eingehen. Die Arbeiten daran beginnen 1947. Nach Stalins Tod 1953 wird das Projekt mehr oder weniger stillschweigend begraben. Bis zu diesem Moment sind nur Teilstücke fertiggestellt. Geblieben ist von diesem gigantischen Unternehmen ansonsten der Übername „Tote Trasse". Sein wirtschaftlicher Nutzen war von Anfang an fraglich gewesen. Auch konnte das Vorhaben überhaupt nur in Angriff genommen werden, weil über 120’000 Zwangsarbeiter dafür eingesetzt wurden.
Remizovs Roman begleitet Stalins Projekt vom Entladen von Baumaterialien in der Siedlung Jermakowo am Fluss Jenissei 1949 bis hin zu seiner Einstellung einige Wochen nach Stalins Tod. Dabei entfaltet der Autor auf über 1’250 Seiten ein beeindruckendes Panorama von Natur und Menschen. In Anbetracht der Fülle an Figuren, Ereignissen und Episoden ist man als Leser zunächst skeptisch, ob der Autor den Stoff zu bewältigen vermag. Doch Remizov konzentriert sich geschickt auf einige ausgewählte Einzelschicksale, so dass der Überblick stets gewahrt bleibt. Auch versteht er es, über den ganzen Roman hinweg eine Spannung zu entwickeln und sie gezielt aufrecht zu erhalten. Das Buch erlangt dadurch auch Charakterzüge eines Kriminalromans. Nicht zuletzt wechselt Remizov ständig zwischen den geografischen Schauplätzen und mehreren Erzählsträngen hin und her, was die Orientierung begünstigt.
Georgi Gortschakow, 47 Jahre alt und von Haus aus Geologe, sitzt im Hohen Norden eine lange politische Haftstrafe ab. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, er habe neu entdeckte Bodenschätze nicht vorschriftsgemäß gemeldet. Er ist nun Feldscher in Jermakowo, das zu einem wichtigen Epizentrum für den Bau der Stalinbahn wird. Georgis Frau Sinaida versucht unterdessen, in Moskau sich und die gemeinsamen beiden Söhne irgendwie durchzubringen. Sina schreibt Georgi immer noch Briefe ins Lager, doch Georgi hat aufgehört, ihr zu antworten. Er rechnet nicht mehr mit der Rückkehr nach Hause und hofft, seine Frau möge sich einem anderen Mann zuwenden. Das Stalinsche System hat er – der nüchterne Wissenschaftler – seit langem durchschaut; Illusionen hegt er keine mehr. – Doch dann beschließt Sinaida ohne Georgis Wissen, ihn zu besuchen und sich vielleicht ganz in Sibirien niederzulassen. Mit ihren Söhnen macht sie sich auf die beschwerliche Reise. Es kommt schließlich tatsächlich zum Wiedersehen des Ehepaars – doch der Preis dafür ist brutal.
Dies ist die eine große Haupthandlung des Romans. Die zweite wichtige Sujetlinie fokussiert auf Alexander Below, den Kapitän der „Poljarny". Below wird mit seiner Mannschaft immer wieder für verschiedene Transport- und Erkundungsaufgaben im Jenissei und dessen Nebenflüssen eingesetzt. Below ist noch jung und voller Idealismus. Er will beim Aufbau des Landes tatkräftig mithelfen, er glaubt den offiziellen Verlautbarungen und vertraut ganz auf Stalins Weitsicht und Weisheit. Die Zweifel, die andere schon längst hegen, registriert er zwar durchaus. Ein Umdenken bewirken sie bei ihm allerdings nicht. Doch dann lernt er eine französische Verbannte, Nicole, kennen und lieben und gerät nach und nach in die undurchschaubaren Mühlen der Politik und der staatlichen Gewalt. Selbst jetzt bewahrt er noch den Glauben an die Gerechtigkeit des Systems. Aber auch Nicoles Schicksal ist eindrücklich: Sie war bei Kriegsbeginn aus ihrer Heimat Frankreich zu einer Freundin nach Lettland geflohen. Als die Sowjetunion das Baltikum besetzt, wird sie als aufmüpfige „Lettin" nach Sibirien verbannt. Dass Nicole plötzlich als Lettin durchgeht, ist für sie bisweilen Fluch, dann wieder Rettung. Überhaupt ist dies eines der großen Themen des Romans: Wie die Menschen der Willkür des Systems ausgeliefert sind, lässt einen fassungslos zurück. Ein Zufall, eine alltägliche Kleinigkeit können kolossale Auswirkungen auf ein einzelnes Schicksal haben, und zwar im Positiven wie im Negativen.
Es wäre unmöglich, alle Handlungselemente oder Figuren dieses weit ausholenden Romans auch nur ansatzweise nachzuzeichnen. Es gibt nur eins: Man muss dieses Buch unbedingt lesen. Ja, man darf es sogar als Pflichtlektüre bezeichnen! Remizovs Roman sollte vor allem auch jene erreichen, welche die Untaten Stalins (oder seiner heutigen „Erben" in Russland) immer noch relativieren. An dieser Stelle ist zu betonen, dass die im Roman auftretenden Personen fiktiv sind. Doch Viktor Remizov hat bei seinen detaillierten Recherchen unter anderem Material der Menschenrechtsorganisation Memorial in Krasnojarsk einsehen können. Bei einigen der Romanfiguren hat er sich deshalb an realen Biografien orientiert. Aber auch die Ausformungen der Gewalt, die Arten von Schicksalen, die „Kultur" der Lagerwelt, die Lebensbedingungen der Verbannten sind nicht erfunden – alles hat es so gegeben.
Wovon aber handelt nun dieser Roman, und was ist seine große Leistung? – Man kann verschiedene Hauptthemen ausmachen. Auf der offensichtlichsten Ebene ist dies ein Buch über den Stalinismus, dessen Brutalität, über die Gewalt und die Willkür des Staats gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern. Zugleich erzählt Remizov auch von der Sinnlosigkeit der Stalinschen Großprojekte – und damit auch vom kommunistischen Experiment selbst. Dabei wird – etwa durch den hellsichtigen Gortschakow – immer wieder die Frage aufgeworfen, ob denn diese Zeit dereinst überhaupt noch erinnert werden wird – und falls ja: wie? Der Bezug zum heutigen Russland ist hier einmal mehr offenkundig. Die Lektüre von Remizovs Roman zeigt deshalb auch: Was heute in Russland geschieht, hat – bei allen Unterschieden etwa im Ausmaß – stets auch Wurzeln in der Vergangenheit. Dass aus der Geschichte so wenig gelernt wurde, lässt einen als Leser erschüttert zurück. Der Titel des Romans, „Permafrost", ist auf diesem Hintergrund sicher nicht zufällig gewählt: Wird etwa die Vergangenheit auf ewig eingefroren bleiben? Oder darf man auf ein „Tauwetter" hoffen?
Auf einer anderen Ebene geht es in „Permafrost" um die Freiheit, oder genauer gesagt: um die kleineren und größeren Freiräume. Denn bei allen ihnen auferlegten Einschränkungen, bei aller erlittenen Gewalt erleben die Menschen doch immer wieder Momente von Freiheit oder kurzem Glück (und sei es nur durch die Zigarette zwischendurch!). Bisweilen geschieht dies durch eine „Lücke", man könnte auch sagen: durch einen „Fehler" im System. Nebenbei gesagt ist auch das eine der Erkenntnisse aus diesem Roman: Stalins Gewaltregime war gleichermaßen ausgeklügelt wie auch chaotisch. Viel häufiger aber sind diese Augenblicke eine Folge davon, dass manche Gefangenen und Verbannten trotz der äußerst widrigen Umstände ihr Menschsein eben doch nicht ganz verloren haben. In den Beziehungen untereinander, im Alltag oder in der Liebe erschaffen sie für sich und für einander Freiräume. Hier entsteht dann doch noch so etwas wie Hoffnung in diesem ansonsten düsteren Roman.
Und nicht zuletzt kristallisiert sich gerade an dieser Stelle ein weiteres zentrales Thema des Romans heraus, das den heutigen Machthabern gleich noch einmal zu denken geben sollte. Remizovs Roman fragt wiederholt: Wer ist eigentlich der Gefangene? Ist es tatsächlich der Lagerhäftling Gortschakow, der sich in den Jahren der Gefangenschaft doch immerhin ein paar kleine Freiräume zu schaffen wusste? Oder ist nicht vielmehr der Geheimdienstoffizier, der Stalin treu dient und die Häftlinge foltert, ein Gefangener des Systems – weil er nämlich schon bald selber einer Säuberung zum Opfer fallen könnte? Remizov macht deutlich, wie sich unter den extremen Bedingungen des sibirischen Nordens und bei den eingeschränkten Optionen das Leben von Freien, Verbannten und Häftlingen im Alltag in mancher Hinsicht angleicht.
Permafrost ist neben all diesem auch ein Roman über die „Kultur" des Lagersystems: über Hierarchien, soziale Prozesse und Praktiken, über den Alltag, die Ernährung, die Arbeit, über die allgegenwärtige Willkür und Gewalt. Das alles ist realistisch und bis in die Details nachvollziehbar dargestellt. Viktor Remizov richtet das Augenmerk dabei nicht nur auf Individuen, sondern auch auf die verschiedenen Völker und Religionen der Sowjetunion und ihr je besonderes Schicksal unter dem Stalinschen Totalitarismus. Auch dies ist ein Verdienst, das man dem Autor hoch anrechnen darf.
Die in russischer Sprache geschriebene Literatur, die gegenwärtig ins Deutsche übersetzt wird, lässt sich in zwei größere Kategorien einteilen: Zum einen sind dies Texte von zeitgenössischen Autorinnen und Autoren, die sich mittlerweile im Exil befinden. Zum anderen werden vermehrt Autorinnen oder Autoren wieder oder neu entdeckt, welche damals die Sowjetunion verlassen mussten (Iwan Schmeljow, Georgi Demidow, Juri Felsen u.a.) oder aber sich mehr oder weniger in Opposition zum Regime befanden (Wassili Grossman). Auf diesem Hintergrund kann man es nicht genug würdigen, dass mit Viktor Remizov auch ein Autor übersetzt wird, der nach wie vor im Land lebt und dessen Buch in Russland überdies auch gelesen werden kann.
Der Verlag stellt Viktor Remizov in eine Reihe mit Lew Tolstoi und Alexander Solschenizyn. Man mag dies zunächst auf den Umfang von „Permafrost" beziehen und daher lächelnd abwinken. Doch nein: Der Vergleich ist ohne Wenn und Aber gerechtfertigt. Dass dies auch in der deutschen Übersetzung noch nachvollziehbar bleibt, ist der großartigen Arbeit von Franziska Zwerg zu verdanken. Ja, das Buch ist in seinem Ausmaß und durch seinen Inhalt eine Zumutung – aber eine absolut notwendige!